In meinen Lektüretipps für die Frühjahrsferien 2021 empfehle ich TRK-Studierenden und Technik-Neugierigen drei Bücher und einen Film: „The Imitation Game“ unter der Regie von Morton Tyldum, „Stichworte zur Zeit“, herausgegeben von der Heinrich Böll Stiftung, „Sprache und Sein“ von Kübra Gümüşay und „Lesen“ von Stanislas Dehaene.
Am Ende jedes Semesters empfehle ich meinen Studierenden der Technischen Redaktion und Kommunikation an der Hochschule München Lektüre für die Ferien. In meinen Vorlesungen und Seminaren stelle ich jeweils ein Buch oder einen Film vor, die einen Bezug zur Veranstaltung haben. Keine Lehrbücher, sondern Bücher oder Filme, die inspirieren und auch mal provozieren. Vor allem sollen sie Spaß und neugierig machen.
Daran halte ich auch nach einem Jahr Pandemie fest. Hinter uns liegen zwei Semester, die nahezu ausschließlich online stattgefunden haben. Wir haben zwei Kohorten von Erstsemestern, die nie an der Uni waren. Diejenigen, die im März 2020 ihr Studium begonnen haben, haben das erste Studienjahr komplett ohne die Erfahrung absolviert, wie es ist, im Hörsaal zu sitzen oder in der Mensa. Sie haben nicht gemeinsam eine Vorlesung, ein Seminar geschwänzt und keine Referate draußen in der Sonne vor der Uni vorbereitet. Manche ließen während der Lehrveranstaltungen ihre Kameras ausgeschaltet – sei es um Bandbreite zu sparen, aus Schüchternheit oder anderen Gründen. Diese Studierenden haben wir Lehrenden nur einmal im Semester gesehen: in der Prüfung.
Ist das der Zeitpunkt für Kontinuitäten? Für Buchempfehlungen, am Ende sogar Bücher, die (noch) nicht digital vorliegen, sondern „nur“ gedruckt? Ja, jetzt gerade, denke ich.
Viel Spaß mit meinen Lektüretipps für die Frühjahrsferien 2021!
The Imitation Game – Ein Film über Technik, Teams und Toleranz
Im Jahr 2020 wird es Maschinen geben, die das Denken von Menschen so perfekt imitieren, dass sie nicht von einem menschlichen Gesprächspartner zu unterscheiden sind. Der Turing-Test, 1950 von Alan Turing formuliert, ist bis heute der bekannteste Test für den Entwicklungsstand künstlicher Intelligenz. Und er wurde bis heute von keiner Maschine (unumstritten) bestanden.
Nicht der Test des britischen Mathematikers, sondern seine Arbeit als Cryptoanalyst während des zweiten Weltkriegs steht im Mittelpunkt des Films. Turing, ein Einzelgänger und im zwischenmenschlichen Kontakt ungeschickter, aber genialer Logiker, entwickelt mit einem Team der besten Mathematiker Englands eine Dechiffriermaschine für die berüchtigte deutsche Enigma-Maschine. Dabei gehört zu seinem Team trotz aller Vorurteile und gesellschaftlicher Hürden auch Joan Clark, zu der Turing eine enge Freundschaft entwickelt. Die Rahmenhandlung thematisiert Turings Homosexualität, die in England bis 1967 strafbar war. Trotz seiner wissenschaftlichen Verdienste und seiner tragenden Rolle bei der Entwicklung der Dechiffriermaschine wird er verurteilt und willigt in eine so genannte „chemische Kastration“ ein. Er umgeht so eine Haftstrafe, leidet aber an diversen Nebenwirkungen und einer schweren Depression. Im Jahr 1954 nimmt sich Alan Turing das Leben.
Der Film schildert auf packende Weise ein Stück Wissenschafts- und Technikgeschichte, das bis heute aktuell ist. Er begleitet ein Team bei einem anspruchsvollen Projekt durch alle Höhen und Tiefen der heute sogenannten „Teamentwicklung“ und der „Projektkommunikation“. Und er zeigt, wie Vorurteile und Diskriminierung nicht nur Entwicklung und Innovation behindern – Joan Clark kann nur getarnt als Sekretärin in dem Projekt mitwirken – sondern Menschenleben zerstört.
Empfehlung: „The Imitation Game“. Regie: Morton Tyldum. Mit Alan Cumberbatch und Keira Knightley. USA 2014.
Für: Einführung in die Technikkommunikation (Vorlesung im 1. Semester)
Stichworte zur Zeit – Worüber es sich zu denken und zu sprechen lohnt
Von A, wie „Authentizität“, bis Z, wie „Zombie“ erörtern dreißig Autorinnen und Autoren „Stichworte zur Zeit“. Die Heinrich Böll Stiftung greift damit einen Gedanken der 1979 von Jürgen Habermas herausgegebenen zweibändigen Sammlung „Stichworte zur geistigen Situation der Zeit“ auf. Der Verzicht auf das Attribut „geistig“ mag einerseits ein Zugeständnis an den heutigen Sprachgebrauch sein und verweist auf das weiter gefasste Spektrum der Beiträge, die durchaus auch Physisches und Technisches umfassen.
Schon das Lesen der Stichworte in alphabethischer Reihenfolge regt zum Denken und auch zum Schmunzeln an: Da folgen etwa „Drastik“ auf „Computerspiele“ und „Öffentlichkeit, digitale“ auf „Neofeudalismus“. Die Autorinnen und Autoren sind überwiegend Kultur- und Medienwissenschaftler, Soziologen und Philosophen. Eine Ausnahme bildet der ehemalige Bundesbeauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit Peter Schaar, der das Lemma „Transparenz“ bearbeitet und die Selbstverständlichkeit in Frage stellt, mit der „Transparenz“ in aktuellen Diskursen als Wert an sich gehandelt wird.
Die in dem Band versammelten Essays sind jeweils etwa 10 Seiten lang und in sich abgeschlossen. Damit eignet sich die Sammlung als Lesebuch und Inspirationsquelle auch für eilige Leser und für überschaubar kurze Ruhephasen. Genau richtig also für die vorlesungsfreie Zeit.
Empfehlung: Heinrich Böll Stiftung (Hg.): Stichworte zur Zeit. Ein Glossar. Bielefeld: Trancript Verlag 2020.
Für: Projekt Unternehmenskommunikation (Wahlpflichtfach im 6. Semester)
Sprache und Sein – Keine Angst vor großen Worten und kleinen Gesten
Kübra Gümüşay ist eine Meisterin der Sprache. In ihrem Bestseller schreibt die erfahrende Bloggerin und Journalistin über die wahrnehmungsprägende Kraft der Sprache in Wort und Schrift. Ihre Argumentation ist geprägt von Anekdoten und einer Vielzahl an Zitaten aus Literatur und Philosophie der Welt. Zum einen ist dies dem Gegenstand ihres Essays geschuldet. Zum anderen scheint ihr Stil geprägt von der Praxis des Weiterleitens, Kommentierens und Bewertens (aka „liken“) in Sozialen Medien, mit allen Möglichkeiten und Risiken der pointiert-zugespitzten Montage. Zugleich spiegelt sich darin ein bewundernswertes Gespür für Nuancen und Variationen und eine beeindruckende Gewandtheit des Ausdrucks.
Gümüşay plädiert nachdrücklich für eine Sprache der Freiheit jenseits von Kategorien, Schubladen und Repräsentationszwängen, seien es die Zwänge von Geschlechterrollen oder Stereotypen der kulturellen Herkunft oder Zuschreibung. Dass sie dabei selbst nicht frei ist von solchen Kategorien und diese auch schreibend einsetzt, ist vielfach kritisiert worden. Und ja, auch mich hat es beim Lesen immer wieder durchzuckt: „So ist das doch nicht. Das ist zu einfach, vielleicht sogar falsch.“ Ich denke jedoch, das gehört dazu. Schließlich ist Gümüşays Thema, dass Sprache eben nicht jenseits der Welt und der Realität ist, sondern Fakt ist und Fakten schafft. Das ist vielleicht nicht neu, sondern Gegenstand der Sprachreflexion seit Aristoteles. Darum ist es jedoch auch heute nicht weniger zutreffend. So war es für mich ein lohnenswertes und im besten Sinne anregendes Lektüreerlebnis – gerade weil ich mich an vielen Stellen missverstanden fühle. Dieses Gefühl auch einmal zu schmecken, ist ein wertvolles Spracherlebnis.
Empfehlung: Kübra Gümüşay: Sprache und Sein. Berlin: Hanser Verlag. 3. Auflage 2020.
Für: Blogredaktion www.techtalkers.hm.edu (Wahlpflichtfach im 6. Semester)
Lesen – Was ich schon immer darüber wissen wollte
„Was in Deinem Kopf vorgeht, wüsste ich mal gerne.“ Kennen Sie den Satz? Ehrlich gesagt, wüsste ich manchmal ganz gerne, was eigentlich in meinem Kopf vorgeht, ganz besonders in Alltagssituationen, die mir so geläufig sind, dass ich schon lange nicht mehr darüber nachdenke. Dazu gehört das Lesen. Lesen kann ich. Es fällt mir leicht, ich finde es entspannend und nur ganz selten anstrengend. Nach der Lektüre des Buchs von Stanislas Dehaene sehe ich mit neuer Ehrfurcht auf diese mir so selbstverständliche Tätigkeit.
„Neuro“ ist seit einigen Jahren sehr en vogue und die Zahl der Veröffentlichungen, die beanspruchen, das Gehirn und was in ihm vorgeht für Laien verständlich zu erklären, sind kaum noch zählbar. Darunter einige sehr gute Bücher und leider auch viel Unsinn. Der Mathematiker und Psychologe Dehaene weiß nicht nur, worüber er schreibt, er kann auch schreiben. Sachlich und trotzdem verständlich, ohne den Eindruck zu erwecken, es sei schon alles gelöst und warte nur darauf, angewandt zu werden (wie es bei weniger seriösen Autorinnen und Autoren oft scheint).
Dehaene erklärt er uns nicht nur, was beim Lesen in unserem Gehirn passiert, wie sich heutige Schriftsysteme entwickelt haben, wie Kinder lesen lernen und was Legasthenie eigentlich ist. In seiner spannenden Schilderung erfahren wir auch, wie die Phänomene des Lesens in unterschiedlichen Wissenschaften erforscht werden, wie Hypothesen entwickelt und wieder verworfen wurden und erleben lesend, dass Wissenschaft kein abgeschlossener (oder abschließbarer) Prozess ist. Eine faszinierende Lektüre, die natur-, kultur- und sozialwissenschaftliche Forschung auf selten gelungene Weise zusammenführt.
Empfehlung: Stanislas Dehaene: Lesen. Die größte Erfindung der Menschheit und was dabei in unserem Köpfen passiert. München: btb Verlag 2012.
Für: Offenes Kolloquium Unternehmenskommunikation (alle Semester)